Der Baum

Er steht dort schon seit Jahren.
Hält die Welt fest mit seinen Wurzeln.
Er steht dort schon seit Jahren und spricht kein Wort.
Er hält nur die Welt fest. Sonst nichts.
Er ragt hoch in den Himmel und er sieht doch nichts.
Seine einzige Bewegung ist das Wachsen zur Sonne hin.
Er wird sie nie erreichen.
Der Wind rauft mit seinen Zweigen,
verfängt sich darin und flucht in den Blättern. Der Baum steht.
Der Wind reißt und zerrt. Der Baum steht.
Ein Mord geschieht.
Der Baum schweigt.
Du hast mich verlassen.
Der Baum schweigt.
Jemand weint.
Der Baum spendet keinen Trost.
Es ist nur der Wind, nur der ewig fluchende Wind in den Blättern.
Nur der Wind heult mit dir.
Der Baum schweigt.
Der Baum steht.
Der Baum ist hoch.
Der Baum ist näher dem Himmel.
Der Baum ist erhaben.
Der Baum ist stolz.
Der Baum spendet keinen Trost.
Der Baum ist stumm.
Jemand sucht sich einen Ast für sein Seil.
Der Baum spendet keinen Trost.
Er steht da und sagt kein Wort.
Niemand sagt ein Wort.
Der Atem ist angehalten.
Der Sturz in den Tod, ein Ruck,
ein Ruck, das Seil spannt, der Ast knarrt.
Blätter taumeln zu Boden.
Der Baum steht.
Ein Ruck.
Der Ast schwingt.
Ein Ruck.
Der Ast hält.
Ein Körper zuckt im Blätterregen.
Der Baum steht. Der Baum schweigt.
Ein Leben wird kalt. Der Baum schweigt.
Er hält behutsam den Erhängten.
Und wächst weiter zur Sonne.
Als wäre nichts geschehen.



Gisela Nagy, 30.01.1992