Klagelied

O wär es doch!
Zeit, Zeit, Zeit.
Alles zerrinnt mir zwischen den Fingern wie Sand.
Unaufhörlich unbarmherzig jagt mein Leben an mir vorbei,
ich versuche es einzuholen und kriege es doch nicht mehr zu fassen.
Es entgleitet mir immer wieder.
Alles zerrinnt mir zwischen den Fingern wie Sand.
Ich weiß nicht mehr, weshalb es sich lohnte zu leben.
Wenn ich es greifen will, so habe ich doch nur noch den sinnlosen, leeren Sand zwischen den Fingern.
Nichts kann ich rückgängig machen, es ist geschehen, es ist geschehen, es ist vorbei, vorüber.
In der nächsten Sekunde ist es schon zu spät.
Und ich wünschte mir: O wär es doch!
Und ich wünschte mir, ich könnte von vorne anfangen.
Und ich wünschte mir, ich könnte von vorne anfangen!
O wär es doch!
Das Leben ist voll von häßlichen schwarzen Flecken.
Voll von grauenerregenden Fehltritten und Fehlentscheidungen, die sich lachend wie ein grausamer schwarzer Höllenschlund auftun.
Genau dort, wo man doch gerade eben noch sicheren Grund vermutete.
Genau dort, wo man den Fuß gesetzt hat.
Genau dort, wo der Schritt ins Bodenlose schon getan ist.
Diese herzzerschneidende Erkenntnis des nicht mehr vermeidbaren Falls.
Diese herzzerschneidende Erkenntnis, daß der Schritt schon getan ist, schon getan, schon getan, schon vorüber.
Alles geht weiter, es ist schon vorbei, in dem Moment, in dem es begonnen hat. Eine unbarmherzige Sekunde folgt der nächsten unbarmherzigen Sekunde, sie reihen sich aneinander, eine Armee des nicht mehr enden wollenden Schreckens.
Eine Armee der verpaßten Chancen, eine Armee der unauslöschlichen Fehler.
O wär es doch!
Und mein Herz schlägt weiter, wenn es sich auch zusammenkrampft in diesem Schmerz. In diesem grausamen Schmerz, so machtlos zu sein und fallen zu müssen.
In diesem grausamen Schmerz, so vieles versäumt zu haben.
So vieles nicht getan zu haben. So vieles nicht unterlassen zu haben.
Nehmt mir diesen grausamen Schmerz!
Mein Herz schlägt diese unbarmherzig stumpfsinnige Melodie des Lebens.
Diese Monotonie, diese nicht mehr enden wollende Monotonie.
O wär es doch!
Mit jedem Versuch, es zu fassen, greife ich ins Leere.
Mit jeder Anstrengung aus diesem Sumpf zu entkommen, sinke ich doch nur noch tiefer hinein.
Das Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern, jede verpaßte Chance zieht an mir vorüber,
mir eine unfreundliche Grimasse schneidend.
Lachend über mich, den Narr, der versucht, diesem Elend zu entkommen.
Lachend über mich, der ich mich nicht in mein Schicksal fügen kann.
Lachend über mich.
Jeder Versuch, dem zu entkommen, macht alles nur noch schlimmer.
Wie eine verzweifelte Fliege zapple ich im Netz der Spinne und verstricke mich doch nur noch mehr.
Fliege, o wärst Du doch achtsamer gewesen, diese eine Sekunde, als Du nicht prüftest, wohin Dein übermütiger Flug Dich führte!
Fliege, o wärst Du doch achtsamer gewesen!
Fliege, o würdest Du nicht zappeln!
Fliege, o würdest Du nicht alles nur noch schlimmer machen!
Fliege! O wär es doch!


Gisela Nagy, 05.02.2002