Harper ging die Straße hinunter, an den mächtigen Hochhäusern vorbei. Betonwüste. Er nahm einen Schluck. Ein warmes Gefühl rann seine Kehle hinunter. Er fühlte sich gut.
Die Sonne ging unter, aber man sah es nicht. Es wurde nur grauer und dunkler, aber man sah den Sonnenuntergang nie. Nicht hier, eingesperrt zwischen Betonklötze. "Du verdammte Hure, laß dich sehen!" brüllte er. Aber man sah die Sonne nicht. Nicht hier. Er nahm noch einen Schluck, die Hochhäuser begannen zu wanken. Ein langsames, monotones, unendlich monotones Ineinanderfließen der Konturen. Schwarze Riesen im düsteren Himmel. Die braune Flüssigkeit glänzte in der Flasche. Er sog das Gefühl der Wärme in sich auf, konnte nicht genug davon kriegen. Er fühlte sich gut. Er begann zu unterscheiden zwischen der Welt da draußen und der Welt zwischen seinen Schädelknochen. Die wankenden schwarzen Riesen wurden immer unwichtiger, so als hätte sie niemand zwischen die Menschen und die Sonne gestellt. Sie standen nur am Rand seiner Welt, die immer größer wurde, unaufhörlich wuchs wie ein Krebsgeschwür, die andere Welt mit den schwarzen Riesen verdrängend und überwältigend. Es wurde kalt. Er spürte es richtig. Die Sonne, deren glorreichen Untergang er nicht miterleben durfte, war verschwunden, nur noch der bleiche Mond stand am Himmel, ein kalter Planet, der keine Wärme brachte.
Er trank noch einen Schluck, genoß es, genoß es, könnte in diesem einen Moment sterben für diesen einen Schluck, Wärme ausstrahlend, den kalten kranken Mond zur herrlichen wärmenden Sonne machend, glühend, rot glühend in schwarzem Himmel, seine Kehle hinunter in den Magen rinnend, jeden Tropfen spürte er, der ihn wärmte, ihn ganz mit Wärme erfüllte, als hätte er Sonnenstrahlen getrunken, wie ein taubedeckter Käfer, noch kalt und starr, im ersten wärmenden Morgenlicht.
Er genoß es förmlich.
Die Realität ertrank im Alkohol.
Hochhausriesen stemmten sich wankend gegen den schwarzen Himmel, tropfenschwer und flüssig wie heißes Blei. Wankend, bedrohlich. Es platschte herab. Whisky ist flüssiges Sonnenlicht. Aber es regnet, verdammt noch mal. Feuer machen.
Mit klammen Fingern zog er sein Feuerzeug aus der Tasche, versuchte es anzuzünden. Aber ungeschickt rutschte er immer wieder ab.
Er verfluchte es, er verfluchte die ganze Welt. Wozu brauchte sie ihn. Ja. Wozu brauchte sie ihn. Kein Verlust für sie. Er brüllte sich heiser. Wozu brauchte sie ihn??? Wozu brauchte er sie. Wozu brauchte er sie? Wozu brauchte er sie. Ich scheiß auf dich, ich brauch dich nicht, du alte Hure. Er brüllte sich das Herz aus dem Leib. Er schrie noch mehr, als das Feuerzeug endlich angegangen war und seinen Daumen verbrannte.
Die rauhe Haut schmolz unter der verschlingenden Hitze des Feuers wie ein Gletscher unter der Sonne. Mit dem Unterschied, daß der schneeweiße Gletscher kaltes Wasser wurde und nicht ein heißer brennender Schmerz, schmierig und rußig, unangenehm nach verbranntem Leben riechend. Endlich ließ er das Feuer fallen, es wurde von der Dunkelheit gierig verschlungen.
Er stand noch eine ganze Weile so da, mitten im Regen. Auf den Boden starrend, weinend. Vergaß die Flasche in der Hand. Weinte, weil das Feuer wieder ausgegangen war. War so was wei ein Weltuntergang. Feuer ist Sonne. Sonnenuntergang war es. Weltuntergang, warum ist das endgültige Vernichtung, wenn Sonnenuntergang nur eine Nacht bedeutet? Warum Weltuntergang so ewige Nacht, aber Sonnenuntergang Hoffnung auf morgen? Warum Hoffnung auf morgen, wenn man bei Sonnenaufgang hingerichtet wird. Warum wird man bei Sonnenaufgang hingerichtet. Also doch Weltuntergang. Mit jedem Sonnenuntergang werden wir älter. Mit jedem Sonnenaufgang aber auch.
Er ging weiter. Der Regen lief in seinen Kragen, seinen Nacken hinunter, durchnäßte Haare, Haut, Rücken, Schultern, machte steif und kalt. Tropfen Tropfen Tropfen überall. Er nahm noch einen Schluck Wärme, aber es half nichts. Wie ein Ertrinkender trank er immer mehr, vergaß zu atmen. Als es ihm einfiel, verschluckte er sich, hustete sich die Seele aus dem Leib. Trank weiter, denn es half ein bißchen.
Legte sich hin, um zu sterben. In den Regen, in die Kälte.
Der Tod lachte ihn aus.
Er verschob das Warten auf später.
Unbeholfen stand er auf, langsam, doch die schwankende Straße machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Asphaltboden, der Himmel, die Hochhausreisen, sie stürzten auf ihn zu, sie nagelten ihn am Boden fest, ließen nicht zu, daß er aufstand.
Vielleicht sollte er doch warten.
Er nahm einen Schluck, denn der Boden war kalt, obwohl doch unter ihm heiße Hölle war.
Vielleicht sollte er warten, daß der Tod kam und ihm aufstehen half. "Kann ich dir helfen?"
Grinsen, Bartstoppeln und lange Haare.
Er nahm es verschwommen wahr.
Ohne auf eine Antwort zu warten stand er schon auf seinen Beinen.
"Du trinkst zu viel!" Und plötzlich war seine Hand leer, hatte der andere die Flasche, schluckte die Wärme, trank den Alkohol wie Wasser.
"Hey, gib' her." Doch er war zu langsam, viel zu langsam.
Der andere lachte nur, schüttelte den Kopf, die langen Haare flogen naß durch den Regen, die Hand mit der Flasche unerreichbar, Harper griff in die Leere, überrascht, langsam, viel zu langsam.
Wenn der andere ihn nicht halten würde, würde er umfallen wie vom Schlag getroffen. Der Kerl lachte ihn aus, in der einen Hand die Flasche, in der anderen den hoffnungslos Betrunkenen. Der Regen klatschte auf die beiden herab, die sich in einem seltsamen, ewigen Tanz um die braune Flüssigkeit im Kreis drehten, ein langsamer hoffnungsloser Kampf um ein bißchen Wärme. Die Straßen waren dunkel und leer, der Regen nicht mehr als monotone Stille. Nichts mehr von Bedeutung, die ganze Welt, alle Tode, das ganze Leben, es war in diese eine Flasche gefüllt, verflüssigt wie gefrorenen Gedanken. Wärme, Liebe, Kälte, Kriege, Haß, die Drehung der Erde, es hörte auf mit den Molekülen dieses verdichteten Lebens.
Der andere hielt Harper die Flasche an die Lippen, ließ ihn gierig trinken, neigte die Flasche, daß er sich unwillkürlich verschlucken mußte, hielt seinen Kopf, daß er sich nicht abwenden konnte. Whisky tropfte auf den Boden, lief seinen Hals hinunter, seine Brust, der Alkohol wollte in seine Lungen, ließ ihn husten, ließ ihn Schmerz spüren, nahm ihm die Luft, ließ ihn erstickend husten, und der andere, er lachte ihn aus. Er hätte ihm nicht einmal diesen Stoß geben müssen, Harper wäre auch so auf die Straße gefallen, spuckend, kotzend, schäumend, glücklich im Regen.
Für ihn wurde der stehende Kerl ein Gott, wankend gegen die schwarzen Hochhausriesen, und stand doch nur auf dem schwankenden Boden, fest, unerschütterlich, die langen Haare im Regen, trank den Alkohol wie Wasser, von den Knöcheln der Hände tropfte der Regen.
Harper konnte nichts sagen, er konnte nur seine Hand ausstrecken, aber weder der Tod noch der Kerl dachten daran, ihm aufzuhelfen. Der stand nur da und nahm den Whisky nicht mehr von den Lippen.
"Es regnet."
Er hielt inne, schaute ihn an, grinsend, die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht wischend, die Flasche mit Whisky und Wärme locker in der Linken haltend, die Flüssigkeit schwankendes Meer, aber unbedeutend, in seinem Kopf schwankte ein noch größeres Meer. Er begann zu grinsen, immer noch die Hand ausstreckend im Regen. Es wird eine Überschwemmung geben.
Harper versuchte ihn anzuschauen mit glasigen Augen, aber er konnte sich nicht lange darauf konzentrieren, und so schweifte er ab, überlegte, was er sagen sollte, und immer den Regen vor Augen. "Hör' auf, ich muß pissen!" brüllte er schließlich, und der andere lächelte. Harper versuchte aufzustehen, aber nichts, keine Mauer, nichts da zum Anlehnen. Er fiel der Länge nach hin und konnte nur lachen darüber. Der Kerl nahm ihn unter den Armen und stellte ihn wieder auf die Beine, ließ ihn gegen einen der riesigen schwarzen Giganten taumeln, die mit der in Sintflut untergehenden Welt schwankten. Ihm war so schlecht. Er haßte den schwankenden Boden. Seine Finger rutschten am Reißverschluß ab, konnten ihn nicht fassen. Harper fluchte. Der andere lachte. Der Regen platschte herab. Der wankende Hochhausriese, an den er gelehnt war, machte es ihm nicht leichter. Endlich hatte er das Stückchen Metall, zog es herunter und, glücklich über den Erfolg, pisste er auf die ganze Welt. Dampfend im kalten Regen. Er hörte leider nicht, wie er auf die Welt pisste. Der Regen war zu laut auf dem Pflaster. Tropfen tanzten vor den Augen und sprangen fast fröhlich, nein, mit verzweifelter Aggressivität auf den Beton, um zu sterben. Er brüllte, weil er glaubte, nicht gehört zu werden in diesem Wasserschwall. Seine bald grauen Haare klebten klatschnaß an seinem Schädel, alles tropfte, alles wurde durchgeweicht. "Ich pisse auf die Welt, und schau, Gott, er pißt auf uns." Der andere lachte nicht mehr. Er hielt ihm die Flasche hin, starrte auf den Boden, um ihn dann wütend anzufahren. "Trink. Es ist dein Whisky." Harper schnappte nach der Flasche mit weit ausgreifender Bewegung, aber er hatte sie und hätte sie durch seine Ungeschicktheit auch gegen die Hausmauer geschmettert, wenn sein Mund sie nicht magisch angezogen hätte. "Mach deine Hose zu. Du läufst ja rum wie ein Penner." lallte der andere, auf den Wangen glitzerten der Regen und die Tränen aus den Augen, die vergessen hatten, warum sie weinten.
Es war nicht leicht, den Reißverschluß zu erhaschen, wenn man in der anderen Hand Whisky hält. Er unterbrach immer wieder, um zu trinken, um die Wärme, die Wärme aus der Flüssigkeit in sich aufzunehmen, ein bißchen Wärme aufzusaugen.
Eine Zeit lang beobachtete der andere mit stumpfsinnigem Blick seine vergeblichen Versuche, bis er ihm schließlich die Flasche wieder entwand, nicht um zu trinken, sondern um ihm zu sagen "Mach deinen Reißverschluß zu." und um dann um die Ecke zu gehen und zu kotzen.
Harper hörte ihn würgen und er bildete sich ein, den Alkohol und die Galle auf das Pflaster plätschern zu hören, und er mußte lachen, schüttelte sich vor Lachen, aber er brachte keinen Ton hervor, denn er lachte schweigend.
Der andere spülte den bitteren Geschmack mit Whisky hinunter. Seine Augen waren halb geschlossen. "Du hast es ja immer noch nicht." murmelte er und fuhr sich geistesabwesend durch die langen Haarsträhnen. Harper machte auch keine weiteren Versuche mehr. Er ließ sich an die Wand gelehnt auf den Boden sinken und hatte die kalte Mauer im Rücken. "Gib mir meine Flasche wieder." seufzte er. Der andere dachte gar nicht daran. Er tanzte um ihn herum, wankend wie ein schwerfälliger Schmetterling, der von Blütenduft betäubt war, hielt immer wieder inne und trank, trank den Whisky, der in seine Kehle lief, der sein Kinn, seinen Hals und seine Brust hinunterlief, hinunterrann wie heißer Regen.
"Gib her." Harpers Stimme weinerlich, die Augen fasziniert auf die tanzende Gestalt gerichtet.
"Du bist besoffen." feixte der andere. Harper erwiderte nichts. Er starrte ihn nur an mit leerem, glasigen Blick. Der andere trank den Whisky wie Wasser. Harper wartetet ab, in die stumpfsinnige Geduld seiner Berauschtheit geworfen.
Und schließlich dauerte es nicht lange, und der Kerl setzte sich auf das Pflaster, mitten in den Weg. Harper zog ihn zu sich. "Sollen die Leute über dich stolpern?" tadelte er. Der andere weinte. Harper trank und hörte, spürte dabei, wie die Flüssigkeit im Glas gegen die Wände klatschte. "Hier, mein Kleiner." murmelte er und setzte ihm die Flasche an die Lippen, die gierig tranken, aber nicht lange brauchten, um das Getrunkene wieder hochzuwürgen.
Harper beachtete ihn nicht und trank.
Die Hand streckte sich nach der Flasche aus. Harper ließ sie zitternd warten. "Gib her." "Laß mich erst trinken." bemerkte er ungeduldig. Der Kerl weinte. Harper reagierte nicht darauf. "Hör auf zu flennen." knurrte er. Der andere hörte nicht auf. Er gab ihm eine Ohrfeige. Der andere ließ die Faust vorschnellen, Harpers Nase blutete.
Während er den Kopf zurücklegte, um zu trinken, rann ihm das bittere Leben auf die Zunge. Er schnaubte rote Tropfen. "Das gefällt dir wohl, he?" "Nein." sagte der Kerl, das lange Elend, ganz still. "Gibst du mir... die Flasche?" flehte er. Harper drückte sie ihm grob in die Hand. "Hier. Bist du jetzt zufrieden?" Am Glas klebte Blut. Harper ließ es tropfen, der Regen wusch es ab. Der andere trank. Er beobachtete ihn nachdenklich. "Du trinkst das wie Wasser." Der Typ setzte ab und schaute ihn an, Strähnen im Gesicht und verwirrte Augen. "Und?" "Nichts und. Ich hab' nur ne Bemerkung gemacht." "Erzähl weiter." Seine Stimme war drohend, er packte ihn mit der Hand am Kragen. Harper schlug zu, diesmal mit der Wut eines Betrunkenen. Die Hand wurde zurückgezogen, von einem schmerzerfüllten Aufschrei begleitet. Er nahm ihm die Flasche weg und klammerte sie fest. "Du bist ein Säufer. Du trinkst das wie Wasser." Der andere weinte wieder. Der Regen hörte auf. Harper trank. Die Flasche war bald leer. Er starrte die Leuchtreklame eines Hochhausriesen durch den Rest der dunkelbraunen Flüssigkeit an. Er wollte sie in sich aufnehmen. Er setzte die Flasche an die Lippen, trank in großen Zügen.
Die Flasche war bald leer.
Er trank, aber die Wärme blieb aus.
Er setzte den Whisky ab, reichte den Rest dem Kerl rüber. "Hier. Ich hab dir was übrig gelassen." Er weinte nicht mehr. "Danke." Harper ließ sich noch mehr auf den Boden sinken und betrachtete mit überschäumenden Augen den Himmel, sah die Leuchtreklame und den bleichen Mond, sah den anderen trinken, der gerade die letzten Tropfen von Menschlichkeit in sich aufnahm, mit seinen müden Augen.
Im Osten graute der Morgen.
Gisela Nagy, 1991/1992